Wie überträgt man einen großen TV-Moment in den ersten, nachhaltigen Schritt einer jungen Karriere? Wie macht man aus einem schweren, wundervollen Lied, das ein Millionenpublikum nur als Teaser zu hören bekam, eine Single, die im Radio, auf den Streamingplattformen und vor allem in den Herzen der Hörer:innen „funktioniert“? Das sind die Fragen, die sich die 15jährige Ellice und ihr Team stellen mussten, nachdem sie vor einigen Wochen bei den Blind Auditions von „The Voice Kids“ auftrat. Erst sang sie „Grüne Augen“ von Jeremias stimmgewaltiger als deren Sänger Jeremias Heimbach das kann. Und als ihr die Jury – bestehend aus Michi, Smudo, Lena Meyer-Landrut, Alvaro Soler und Wincent Weiss – wortwörtlich zu Füßen lag, legte Ellice noch mit einem eigenen Song nach: „Stummes Klavier“. Eine am Herz reißende Ballade über das Ende einer Freundschaft. Ellice singt darin: „Ich sitze hier schon seit Stunden / hab bis jetzt keine Worte gefunden / stell mir vor, wie es wär‘ / wärst du immer noch hier. / Menschen kommen, Menschen gehen. / Bis man alle verliert.“ Das Studio und die Jury hielt in diesem Moment die Luft an – und man spürte nicht nur diese simple schöne Klaviermelodie, die Ellice komponiert hat, und ihren starken Text, sondern eben auch all die Stunden, in denen sie ein „Stummes Klavier“ vor sich hatte und nicht wusste, wie sie diese Emotion in Musik verwandeln kann.
Ellice braucht diese intensiven Momente, um ihr eigenes, so authentisch wirkendes Songwriting in Gang zu setzen. „So dramatisch wie es in dem Song klingt, habe ich es damals wirklich erlebt und gefühlt“, erzählt sie. „Ich verarbeite mit meiner Musik voll viel. Ich kann mich nicht einfach hinsetzen und mir vornehmen, einen Song zu schreiben. Es kommt viel mehr raus, wenn ich es gerade fühle.“ So wie in „Stummes Klavier“. „Das Lied handelt von einer ehemaligen Freundin von mir. Wir waren uns wirklich nah und diese Freundschaft basierte sehr auf Vertrauen. Und dann hat sie mich einfach versetzt – an einem Tag, den wir eigentlich zusammen verbringen wollten.“ Dass Ellice den Song bei „The Voice“ nach ihrem Jeremias-Cover spielte, war nicht wirklich geplant: „Ich hatte ihn dem Team ein oder zweimal vorgespielt und die sagten nur so was wie ‚ganz gut‘ oder so. Und dann wollte die Jury plötzlich, dass ich ihn spiele. Ich hatte voll Angst, weil ich immer diese schweren Akkorde am Anfang vergesse und habe eine Weile gebraucht, bis ich drin war.“ Aber dann – das kann man immer noch bei YouTube oder auf der Pro7-Website sehen – funktionierte es. „Ich habe diesen Song bisher nur zweimal fehlerfrei gespielt bis dahin – dieser Moment war einer davon.“
Im Interview mit Ellice, merkt man jedoch ebenso schnell, dass hier nicht eine junge Künstlerin in einen kleinen Hype gestolpert ist. Ellice als Musikerin: das war schon immer ihr Plan. Sie ist Teil des Musical-Kurses für Kinder und Jugendliche beim Friedrichsstadtpalast, bei „Jugend musiziert“ hat sie 2022 im Regionalwettbewerb für den Landkreis Oder Spree und später im Landeswettbewerb für Brandenburg jeweils den 1. Platz abgeräumt, und – vielleicht das Wichtigste in dieser Auflistung: „Ich habe als Kind eine Videokonsole gehabt, mit der man auch so Sprachmemos aufnehmen konnte. Da habe ich immer Lieder reingesungen. Und dann wie bei meinem eigenen Radiosender auch die Moderationen dazwischen aufgenommen.“ Dass sie ihre inzwischen perfekt geschulte und charakterstarke Stimme dann auf die Musik von Indiebands wie Jeremias losließ, lag an einer Freundesgruppe, die sie letztes Jahr kennenlernte. „Da war einer bei, der mir Jeremias, Schmyt und Paula Hartmann und so vorgespielt hat. Da wusste ich: das ist meine Richtung!“
Mit Tim Tautorat hat Ellice sich einen Produzenten gepickt, der in genau dieser Richtung schon so manchen Act im Studio hatte: AnnenMayKantereit, Faber, KLAN, Betterov, Provinz, Bruckner – und eben: Jeremias. Trotzdem war die Zusammenarbeit ein wunderschöner Zufall: „Meine Mutter sprach mit einem Kollegen darüber, ob es Sinn machen würde, den Song jetzt schon aufzunehmen. Der sagte dann: ‚Ich kann mal meinen Nachbarn fragen.‘ Das war Tim. Er fand das Lied cool und hat mich eingeladen.“
Für Ellice war die Zeit im Studio „wie im Himmel“. Vor allem, weil sie wohl noch ihr kleines Konsolenstudio im Kinderzimmer in Erinnerung hatte. Sie und Tautorat haben es außerdem im zweiten Anlauf geschafft, „Stummes Klavier“ nicht zu einer wuchtigen Ballade zu machen, sondern zu einem eleganten, dramatischen, modernen Popsong, der zwar mit Ellice und ihrem Klavier beginnt, aber im Mittelteil einen dunkel-schönen Groove bekommt, der ein klein wenig an den TripHop der 90er erinnert. Ellice sagt: „Ich bin mega happy mit dieser Version. Ich hatte erst Angst, dass der Song zu schwer und zu pathetisch wird, deshalb haben wir noch eine zweite Session gemacht. So wie er jetzt ist – damit kann ich mich voll identifizieren.“
Ellice – Extras (debut EP): https://ellice.lnk.to/extras